Die Europäische Union (EU) steht vor großen Aufgaben. Der Brexit ist weiterhin ungelöst, der „Green New Deal“ sorgt für Streit und die Bekämpfung der Corona-Pandemie verlangt höchste Anstrengungen.
Daneben gibt es enorme sozialpolitische Herausforderungen: Eine von fünf Personen – das sind insgesamt 118 Millionen Menschen in der EU – ist von Armut bedroht.
Im Zuge der Übernahme der sechsmonatigen EU-Ratspräsidentschaft, die in eine Zeit der Neuordnung europapolitischer Ziele insgesamt fällt, hat Deutschland ein ambitioniertes Programm vorgestellt.
Verbindliche europäische Mindeststandards gefordert
SoVD und AWO wollen, dass der Armutsbekämpfung ein noch höheres Gewicht eingeräumt wird. Sie fordern unter anderem verbindliche europäische Mindeststandards für soziale Sicherungssysteme.
Im Rahmen der Fachveranstaltung in der Bundesgeschäftsstelle des SoVD machten die beiden Verbände zugleich einProgramm mit insgesamt neun Kernforderungen für ein sozialeres Europa öffentlich.
Die Konferenz mit Präsenzvorträgen und zugeschalteten Gästen unter anderem aus Brüssel wurde über Youtube live im Internet übertragen und fand ein großes Echo bei den Medien.
SoVD-Präsident Adolf Bauer sagte in seiner Eröffnungsrede, dass das Thema Armut durch die Corona-Pandemie in Europa zwar an Dringlichkeit gewinne, jedoch auch vorher schon ein wichtiges Anliegen gewesen sei. Bauer verwies hierbei auf die „Europa-2020-Strategie“, die die Armut in der EU bis dato deutlich reduzieren sollte. Dies sei nicht gelungen, so der SoVD-Präsident. Einmal mehr, wie schon bei der Finanzkrise, treffe es vulnerable Gruppen wie Ältere, Menschen mit geringem Bildungsgrad oder Menschen mit Behinderungen besonders stark.
Schon jetzt jedes vierte Kind in EU von Armut bedroht
Gerwin Stöcken, Präsidiumsmitglied der AWO und Sprecher der Nationalen Armutskonferenz, plädierte für die Einrichtung von existenzsichernden Grundsicherungssystemen. Der deutschen Ratspräsidentschaft käme dabei eine besondere Rolle zu, denn jetzt sei es möglich, die Weichen für die nächsten Jahre zu stellen. Er warnte davor, dass Kinder die Verlierer der Corona-Krise werden. Schon jetzt sei EU-weit fast jedes vierte Kind von Armut und Ausgrenzung bedroht.
Benjamin Benz, Professor für Politikwissenschaft und Sozialpolitik an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, kritisierte, die EU habe in den letzten Jahren „eher die Armen als die Armut bekämpft“. Mittlerweile hätten viele Verantwortliche jedoch den Wert des Sozialen erkannt. Bei der Mindestsicherung gehe es um das „unterste, das allerunterste soziale Netz“, so Benz.
„Corona-Krise legt wie ein Brennglas Probleme offen“
Nicolas Schmit, EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte, betonte die europäische Verantwortung hinsichtlich Armut bei Erwerbstätigkeit. Er kritisierte Tendenzen wie die zunehmende Prekarisierung von Beschäftigung, die Verdrängung auf dem Wohnungsmarkt und die nach wie vor verbreitete Kinderarmut. Armut in reichen Gesellschaften wie der europäischen sei ein Skandal. Schmit dankte SoVD und AWO für ihr solidarisches sozialpolitisches Handeln aus langer Tradition und versprach einen Vorschlag für Mindestlöhne in Europa.
Bundessozial- und Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) bezeichnete die Corona-Krise als „Brennglas“. Die Pandemie lege bisherige Probleme offen und produziere Handlungsbedarf. Die Krise zeige aber auch, dass sozialstaatliche Elemente wie das Kurzarbeitergeld funktionierten und Menschen vor Armut schützten. Heil kündigte an, während der deutschen Ratspräsidentschaft einen europäischen Rahmen für nationale Löhne und Sicherungssysteme zu entwickeln.
An der folgenden Diskussion nahmen Erika Biehn von der Nationalen Armutskonferenz, Gabriele Bischoff (SPD, Mitglied des EU-Parlaments), Prof. Benjamin Benz und Malte Steuber, ehemaliger Bundesvorsitzender der Jungen Europäischen Föderalisten Deutschland, teil.
Im Mittelpunkt standen Fragen der Kindergarantie, der europäischen Mindestsicherung sowie europäischer Mindestlöhne.
Erika Biehn, als armutserfahrene Vertreterin der NAK, forderte, in Armut lebende Menschen mehr anzuhören. „Es geht nicht um das reine Geld, und das habe ich auch in anderen Staaten gehört. Es geht auch darum, wie man als von Armut betroffener Mensch behandelt wird – in den Behörden, in der Gesellschaft. Am Ende ist Armut eine Frage der Würde.“
Schlussworte sprachen Prof. Jens M. Schubert, Geschäftsführer des AWO-Bundesverbandes nach § 30 BGB, und SoVD-Vizepräsidentin Prof. Dr. Ursula Engelen-Kefer. Schubert mahnte, dass Appelle und nette Worte allein nichts brächten. Um den sozialen Fortschritt zu fördern, seien verbindliche Rechtsakte nötig.
Engelen-Kefer kritisierte die Diskrepanz zwischen politischen Zielen und der Realität. Sie fasste drei wesentliche Instrumente für ein sozialeres Europa zusammen: einen europäischen Mindestlohn, einen europäischen Rahmen für die Grundsicherung sowie einen Standard für eine EU-Arbeitslosenversicherung.
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