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„Darf man dich „Liliputaner“ nennen, Michel?“

Behinderung

Michel Arriens (27) ist Blogger, Fotograf und Aktivist. Seit April 2017 arbeitet er als Campaigner bei change.org. Michel lebt mit seiner Freundin in Hamburg und kämpft jeden Tag für ein besseres Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung.

Wir haben Michel über Inklusion, Barrierefreiheit im ÖPNV und sein Leben mit Kleinwuchs befragt.

Wie ist heute dein persönliches Verhältnis zur Hamburger Hochbahn?

(lacht) Das ist eine gute Frage, die Hochbahn und ich hatten ein etwas angeknackstes Verhältnis zueinander. Ich reibe mich immer an Menschen und Organisationen, die Barrierefreiheit nicht als Selbstverständlichkeit ansehen. Aber das hat nicht unbedingt nur mit dem Thema Mobilität zu tun, auch nicht speziell mit der Hochbahn.

Es gibt auch genügend Restaurants, die Modernisierungsmaßnahmen machen, und auf einmal sind am Eingang Treppen. Die Hochbahn und ich haben am Ende ja auch ein gutes Ende für die Geschichte gefunden. Ich bin nicht nachtragend und versuche jetzt einfach, im Arbeitskreis für Barrierefreiheit in Hamburg etwas zu bewegen – auch für die Hochbahn.

Bitte erzähle kurz, was damals genau passiert ist!

Ich bin im Frühjahr 2017 in einen Bus der Hamburger Hochbahn gestiegen und habe mich ganz normal auf den Rollstuhlfahrerplatz gestellt, wie sonst auch. Und dann kam eine Durchsage des Busfahrers, ob ich mich umgesetzt hätte. Ich habe ihm nur geantwortet „Nein, ich stehe auf dem Rollstuhlfahrerplatz, wie immer“ und dann sagte er, dass er dann nicht losfahren könne.

Er wollte nicht losfahren, solange ich im Bus auf meinem Roller sitze. Den nutze ich jetzt seit über 20 Jahren. Dann habe ich die Polizei angerufen, weil ich diese Situation nicht akzeptieren konnte. Das ist eine krasse Diskriminierung gegenüber Menschen mit Behinderungen. Ich konnte bis gestern fahren und auf einmal nicht mehr.

Die Polizei konnte das allerdings nicht vor Ort klären. Dann bin ich ausgestiegen und wollte eigentlich einfach den nächsten Bus nehmen. Der Busfahrer aus dem nächsten Bus stieg schon aus, bevor ich einsteigen konnte und meinte „Herr Arriens, Sie wissen doch, wir dürfen Sie nicht mitnehmen.“ Da war mir klar, dass alle Hamburger Busfahrer darüber informiert worden waren: Der kleine Mann auf dem Roller darf nicht mehr im Bus mitfahren.

Ich habe dann sehr schnell einen Beitrag auf Facebook gepostet und meinen Followern davon erzählt. Außerdem habe ich ein paar Leute von der Presse angerufen. Und die haben dann darüber berichtet – das hat sich innerhalb von 48 Stunden zu einem riesigen Shitstorm entwickelt. Am Ende haben die Hochbahn und ich eine Lösung gefunden, die genauso aussieht wie die letzten 20 Jahre auch: Ich fahre weiterhin auf dem Platz, auf dem ich immer gefahren bin – und zwar auf meinem Roller.

Das schlimmste an dieser Situation war eigentlich, dass ich das erste Mal seit vielen Jahren wieder das Gefühl hatte, wirklich behindert zu sein. Das ist ein Gefühl, das ich niemandem wünsche.

Nutzer von E-Scootern haben in weiten Teilen Deutschlands nach wie vor Probleme, mit dem Bus zu fahren. Was rätst du diesen Menschen?

Ich glaube, es muss einen großen Protest geben. Denn E-Scooter sind Hilfsmittel, sie sind anerkannt. Es gab nie ein Problem mit diesen Geräten im Bus. Und plötzlich werden die Nutzer dieser Hilfsmittel ausgeschlossen? Das kann nicht die Lösung sein.

Wenn ich mir das im Frühjahr gefallen lassen hätte, dürfte ich heute noch nicht wieder mit dem Bus fahren. Nach den Medienberichten war das Thema nach 48 Stunden durch. Die Menschen müssen sich Gehör verschaffen.

Wie reagieren die Menschen auf der Straße auf Dich? Kommt es vor, dass fremde Leute dich ansprechen?

Klar werde ich von Menschen angesprochen und auch angeguckt. Das ist zunächst auch okay, denn ich gucke auch Menschen mit blauen Haaren, auf dem Einrad oder nur einem Bein an.

Besonders Kinder wollen natürlich wissen „Papa, warum ist der Mann denn so klein? Warum fährt der mit dem Roller?“ Aber es wird zum Problem für mich, wenn Menschen anfangen zu lachen, also mich zu bewerten.

Passiert das? Auch bei Erwachsenen?

Das passiert. Nicht oft, aber es passiert. Das zeigt ja auch, wo wir in der Realität der Inklusion noch stehen. Ich glaube, da sind wir noch ganz am Anfang. Menschen mit und ohne Behinderung begegnen sich in vielen Fällen einfach nicht häufig genug. Da müsste schon im Kindergarten und in der Schule viel mehr passieren.

Wie setzt Du Dich für Inklusion ein?

Ich bin zum Beispiel Vorstandsmitglied des Bundesverbands kleinwüchsige Menschen und ihre Familien (BKMF), einem Interessenverband mit 3500 Mitgliedern in Deutschland. Ich bin Aktivist für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Das heißt, ich setze mich vor allem in den Medien für die Rechte von Menschen mit Behinderung ein, insbesondere mit Videos.

Dazu leite ich unter anderem Workshops zu barrierefreien Medien und diskriminierungsfreier Sprache. Das bedeutet, ich gebe bei Medienhäusern, Organisationen und Firmen Workshops. Dort erkläre ich, wie sie Sprache vermeiden können, in der sie Menschen, vielleicht auch ungewollt, bewerten, negativ bewerten. Zum Beispiel die Floskel „Er leidet an Kleinwuchs“. Das ist eine sehr häufig verwendete Floskel, die einfach impliziert, dass ich unter meinem Kleinwuchs tagtäglich leide. Ich werde damit auf meine Behinderung beschränkt. Aber es gibt gute und schlechte Tage, auch in meinem Leben, genau wie bei allen anderen auch.

Darf man Dich „Liliputaner“ nennen?

Also, Liliputaner ist ein Beispiel dafür, wie sich Begrifflichkeiten verändern. Sprache bestimmt auch, wie wir über Menschen denken. Und wenn wir Menschen mit Fabelwesen aus den Geschichten von Gullivers Reisen vergleichen, dann entspricht das nicht der Realität. Menschen mit Kleinwuchs sind echt, wir sind keine Fabelwesen. Wir kommen nicht aus Liliput. Sie heißen zum Beispiel Michel, sind 27 Jahre alt und haben unterschiedlichste Berufe.

Es sollten die Menschen, die es direkt betrifft, die damit leben, selbst entscheiden können, was für sie als Begrifflichkeit okay ist. Ich glaube, das ist das allerwichtigste. Dass die Begriffshoheit den betroffenen Menschen gehört.

Du nutzt für deine Arbeit vor allem das Medium Film. Warum?

Damit erreicht man am besten die jüngeren Menschen in der Gesellschaft. Die wollen nicht unbedingt lange Texte lesen, wollen vielleicht auch mal einen Podcast hören, aber vor allem schauen sie sich Videos an. Und ich glaube, dass ich vor einer Kamera einfach mehr bewirke, als wenn ich lange Texte schreibe. Ich kann mich so auch besser ausdrücken, als wenn ich minutenlang über die richtige Formulierung am Computer nachdenke.

Was bedeutet für dich persönlich Barrierefreiheit?

Für mich bedeutet Barrierefreiheit zum Beispiel einfach, in ein Café zu gehen, um mich mit Freunden zu treffen. Und nicht darüber nachdenken zu müssen, ob ich da auf Toilette gehen kann, ob ich da überhaupt reinkomme, ob ich einen Sitzplatz finde, wo ich meinen Roller hinstellen kann.

Im negativen Sinne heißt das: Ein Café ist nicht barrierefrei, wenn da Stufen sind, ich nicht auf die Toilette gehen kann, der Raum so klein ist, dass ich meinen Roller nirgendwo abstellen kann, dass die Kellner mich zuerst gar nicht angucken, sondern meine Freunde fragen, was „der andere Mann“ denn gerne trinken möchte. Das passiert auch manchmal, weil sie dann denken, ich wäre nicht mündig.

Barrierefreiheit heißt für mich, nicht darüber nachdenken zu müssen, wie ich etwas machen soll. Ich mache es einfach.

Mit Deiner Arbeit hilfst Du vielen anderen Menschen. Musstest du schon einmal selbst Hilfe in Anspruch nehmen? Etwa im Sozialrecht?

Bisher noch nicht. Ich bin jemand, der keine Lust hat, sich mit Dingen zu beschäftigen die mich aufhalten im Leben. Ein Beispiel: Meinen Roller habe ich jetzt seit 15 Jahren. Er ist aus Edelstahl gefertigt und deswegen sehr schwer. Die Krankenkasse sagt aber, dass dieser Roller ein Spielzeug ist und kein offizielles Hilfsmittel. Als ich die Ablehnung der Kasse für ein neues Gerät bekam, habe ich schon überlegt, was ich machen soll. Suche ich mir einen Verbündeten, kämpfe ich selber dagegen an, lege ich selbst Widerspruch ein? Oder suche ich mir jemanden wie den SoVD, der mich berät und vielleicht auch vor Gericht vertreten kann?

Es ist gut, dass es solche Organisationen gibt, die Menschen unterstützen – gerade wenn irgendwann die Kraft zu Ende geht. Und ich glaube schon, dass ich in Zukunft auf solche Vereine zurückgreifen werde. Denn mit zunehmendem Alter hat man auch unterschiedliche Bedürfnisse, braucht vielleicht Nachteilsausgleiche oder neue Hilfsmittel. In so einer Situation finde ich es gut, einen starken Partner an der Seite zu haben.

Vielen Dank für das Gespräch, Michel!

Weitere Infos über Michel Arriens finden sich auf seiner Website, bei Facebook oder auf Twitter.

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